Ein Junge, ein Land, ein Gedanke: Die Idee Europa - Zum 70. Jahrestag des Saarstatuts

2025-10-23

An Jürgen.

Ich sehe ihn als Jungen vor mir – zwölf Jahre alt, neugierig, mit wachen Augen. Es ist Herbst 1955. In den Straßen von St. Wendel hängen Plakate: blau, weiß, rot. Die Erwachsenen reden laut, manchmal hitzig. In den Wirtshäusern wird gestritten, auf den Marktplätzen diskutiert. Mein Vater steht daneben, hört zu, versteht nicht alles – aber er spürt, dass es um etwas Großes geht. Sein Vater erzählt von der Grenze, die ganz nah ist. Von Zöllnern, Schmugglern, von jener Märklin-Eisenbahn, die einst heimlich aus dem „Reich“ herübergebracht wurde. Die Grenze war kein abstrakter Begriff – sie war Alltag.

Und plötzlich sollte genau diese Grenze zur Abstimmung stehen. Das Saarland war 1955 ein Brennglas Europas: zwischen Frankreich und Deutschland, zwischen Wiedervereinigung und Eigenständigkeit, zwischen Erinnerung und Neubeginn. Auf einem der Plakate stand: „Europa – die Saar verbindet Frankreich und Deutschland.“ Für viele nur ein Wahlspruch. Für ihn wurde es ein Lebensmotto.

Als die Saarländer 1955 gegen das europäische Statut stimmten und das Saarland 1957 der Bundesrepublik beitrat, war das ein Volksfest. Die Straßen füllten sich, Fahnen wehten, Menschen sangen. Wenn man die alten Fotos sieht, erinnert das an den November 1989, als in Berlin die Mauer fiel. Beide Male fiel eine Grenze – beide Male öffnete sich ein Stück Zukunft. Doch mein Vater blieb, auch nach der Rückkehr zur Bundesrepublik, von dieser Haltung der Saarländer geprägt. Er lebte weiter die Weltoffenheit, die der Gedanke einer eigenständigen Saar-Region hervorgebracht hatte. Er nahm das Beste aus beiden Welten mit: deutsche Bodenständigkeit und französische Lebensfreude.

Er fuhr mit seiner jungen Familie in die Vogesen, pflegte Freundschaften mit französischen Offizieren in St. Wendel und saß sonntags mit ehemaligen Legionären beim Frühschoppen. Echte Begegnungen – menschlich, herzlich, respektvoll.

Bis zuletzt blieb diese Verbindung lebendig. Die Einladungen des französischen Generalkonsulats zum Nationalfeiertag in Saarbrücken erfüllten ihn mit Stolz. Dieses Jahr konnte er, durch seine Krankheit, nicht mehr teilnehmen – aber allein die Einladung war ihm Freude genug.

Heute, siebzig Jahre nach jener Abstimmung, wird mir klar, wie sehr ihn diese Zeit geprägt hat. Er hat Europa nicht diskutiert – er hat es gelebt. In Freundschaften, in Begegnungen, in seiner Haltung zum Leben.

Und ich frage mich, was ich selbst daraus mitnehme. Vielleicht genau das: Dass Identität kein Entweder-oder ist. Dass man nicht in Grenzen denken muss, sondern in Verbindungen. Dass Weltoffenheit kein Ideal ist, sondern eine Haltung – gelebte Neugier, gelebte Freundschaft.

Mein Vater hat das verstanden, lange bevor es selbstverständlich war. Europa – die Saar verband Frankreich und Deutschland. Und in seinem Leben verband sie noch mehr: Vergangenheit und Zukunft, Geschichte und Menschlichkeit.

Danke, Papa.